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13. Juni 2022

«Diese Menschen sind keine Analphabeten»

«Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben setzt sich dafür ein, dass Menschen ihre Grundkompetenzen verbessern können», sagt Geschäftsführer Christian Maag. Die aktuelle Kampagne «Besser jetzt!» möchte Betroffene motivieren, einen Kurs zu besuchen.

Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben (DVLS) unterstützt seit 16 Jahren Menschen, die Mühe mit den Grundkompetenzen haben. Was ist damit gemeint?

Christian Maag: Es geht um Kompetenzen von Erwachsenen, die zwingend notwendig sind, um den Lebensalltag, beruflich oder privat, bestreiten zu können. Das nationale Weiterbildungsgesetz (WeBIG) unterscheidet aktuell zwischen den vier Kompetenzen Lesen, Schreiben, Alltagsmathematik und Digitale Kompetenzen. Ebenfalls zu den Grundkompetenzen gehört die mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer Landessprache.

Die gesellschaftlichen Anforderungen sind dabei ein wichtiger Faktor, um zu definieren, was im jeweiligen Kontext als eine Grundkompetenz angesehen werden muss. Vor 30 Jahren waren zum Beispiel die Anforderungen im digitalen Bereich ganz anders als heute. Auch die Anforderungen im Bereich Lesen und Schreiben sind in derselben Zeitspanne noch einmal deutlich gewachsen. Damit steigt auch der Druck auf diejenigen Bevölkerungsgruppen, die in diesen Bereichen Mühe haben.

Warum braucht es einen Verband wie den DVLS?

Einerseits braucht es den Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben als Themenanwalt, der sich für Menschen einsetzt, die Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben haben, einfache Rechnungen nicht schaffen oder den Computer nicht bedienen können. Diese Menschen haben nicht die stärkste Lobby und gehen schnell vergessen. Und andererseits, um zum Thema zu machen, dass beispielsweise rund 800'000 Menschen in der Schweiz nicht über ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Es geht darum, die Leute zu sensibilisieren, die breite Öffentlichkeit zu informieren und das Thema aufs politische Parkett zu bringen.

Das Thema betrifft uns alle, weil sich daraus gesamtgesellschaftliche Auswirkungen ergeben. Menschen, die Probleme im Bereich Grundkompetenzen haben, haben zum Beispiel eine höhere Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu sein. Auch stellen sich diverse Fragen bezüglich gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengerechtigkeit.

Aber der Dachverband ist auch direkt für die Betroffenen da. Diese wissen teilweise nicht, dass es Kurse gibt, die sie als Erwachsene absolvieren können, um das, was sie in der Schule nicht gelernt oder wieder verlernt haben, nachholen zu können. Hier beraten und unterstützen wir.

Christian Maag

Seit 2006 ist er Teil unserer Polit- und Kommunikationsagentur. Seit 2010 führt er als Geschäftsführer das langjährige Mandat des Schweizer Dachverbandes Lesen und Schreiben.

Er ist ein anerkannter Fachexperte im Bereich Grundkompetenzen. Durch die erfolgreiche Zusammenarbeit konnte sich der Verband als nationaler Dachverband für Grundkompetenzen etablieren.

Ist es eigentlich mit den neuen Medien einfacher oder schwieriger geworden, eure Zielgruppen zu erreichen?

Das ist eine schwierige Frage, weil wir nicht wissen, ob wir sie wirklich erreichen. Früher hat man einfach TV-Werbung geschaltet, weil ja mehr oder weniger alle mal vor dem Fernseher sassen. Mit den neuen Möglichkeiten auf Social Media kann man heute sicher zielgerichteter kommunizieren. Google Ads funktionieren beispielsweise sehr gut.

Die Kommunikation in der Breite, also zum Beispiel über TV und Radio, hat heute einen viel höheren Streuungsverlust – weil nicht mehr alle TV schauen oder die Werbung übersprungen werden kann. Bei Social Media kann man sich wiederum fragen, ob und wie gut man die Betroffenen über die digitalen Kanäle erreicht, vor allem jene, die wenig digitale Kompetenzen haben.

Der DVLS ist Träger der Kampagne «Einfach besser!». Was ist das Ziel dieser Kampagne?

Das primäre Ziel ist es, die direkt Betroffenen zu erreichen und ihnen aufzuzeigen, dass es Kurse gibt, auch für ganz unterschiedliche Stufen. Wir wollen sie motivieren, sich überhaupt zu informieren, etwa auf unsere kostenlose Hotline (0800 47 47 47) anzurufen oder einen Kurs zu machen. Ausserdem möchten wir ihnen bewusst machen, dass sie nicht alleine sind und es andere Menschen gibt, die in der gleichen Situation sind, oder waren, und es geschafft haben.

Wir wollen mit der Kampagne «Einfach besser!» aber auch Dritte erreichen, vor allem Beraterinnen und Arbeitgeber. Sie sind wichtig, denn oft sind sie es, die zum Beispiel feststellen, dass ein Mitarbeiter seine Formulare immer nach Hause nimmt, weil er angeblich seine Brille zu Hause vergessen hat. In so einem Fall können sie auf die Person zugehen und sie unterstützen, und wir geben ihnen dafür etwas an die Hand.

Wie kann man Betroffene, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben, über Plakate mit Text erreichen?

Das ist ein guter Punkt. Wir haben bei der aktuellen Kampagne sehr genau darauf geachtet, dass wir keinen doppelten Boden haben oder Wortspiele. Wir haben sie ganz bewusst zusammen mit Betroffenen entwickelt. Dieser partizipative Ansatz ist wichtig, weil er uns hilft, die Zielgruppe möglichst gut zu erreichen.

Letztlich ist es aber ist eine Frage des Mixes. Ganz ohne Text geht es fast nicht. Wir setzen immer mehr Werbespots ein, die nicht nur auf Text basieren, sondern auf der Audio- oder Videoebene unterstützt werden. Unsere Kampagnen sind sehr «basic» und einfach zu verstehen.

Entscheidend ist, dass man darauf achtet, dass die Sprache einfach ist und die «Botschaften« kurz und prägnant sind. Die betroffenen Menschen sind keine Analphabeten, sie können einfach nicht zu viel Information in einem Satz verarbeiten.

Ihr arbeitet auch mit Botschafter:innen zusammen. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit?

Wir haben die Gruppen der Botschafter:innen aufgebaut, aber sie sind autonom. Es handelt sich um Betroffene, die bereits einen Kurs besucht haben und wissen, was es ihnen gebracht hat. Sie setzen sich gemeinsam mit uns dafür ein, das Thema in der Öffentlichkeit und insbesondere bei anderen betroffenen Menschen bekannt zu machen. Alle Botschafter:innen engagieren sie sich freiwillig. Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit.

Wenn sie eine Aktion planen, arbeiten sie mit dem Kampagnenmaterial und wir unterstützen sie dabei. Und wenn wir eine Medienanfrage haben, dann gehen wir auf sie zu. Denn alle Medien wollen immer mit Betroffenen sprechen. Hier haben wir eine wichtige Rolle in der Begleitung und Unterstützung der Botschafter:innen im Umgang mit den Medien. So haben wir zum Beispiel mehrere Medienschulungen organisiert, um die Botschaftergruppen auf die ungewohnte Situation vorzubereiten.

Sprache und Formulierungen sind ein heikles Thema. Wie spricht man über Menschen, die Mühe mit Grundkompetenzen haben, ohne abwertend zu sein?

Das ist die Gretchenfrage. Einerseits will man ein Tabu brechen, indem man darüber spricht. Es soll aber nicht der Grundtenor entstehen, dass die Betroffenen leiden und sie Probleme ohne Ende haben. Treten wir in der Kommunikation so auf, fühlen sich Betroffene entweder nicht angesprochen, weil sie damit nichts zu tun haben wollen, oder sie schämen sich noch mehr.

Gleichzeitig wollen und müssen wir uns aber auch am politischen Diskurs über das Problem mangelnder Grundkompetenzen beteiligen. In der Politik erhalten in der Regel diejenigen am meisten Aufmerksamkeit, die glaubhaft machen können, dass wir es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun haben, das es zu lösen gilt. Da gehört es dazu, dass wir auch vereinfachen, zuspitzen und mit Emotionen arbeiten. Es ist also wichtig, die richtige Botschaft zu finden und den Ton zu treffen. Dafür braucht es Erfahrung und Fingerspitzengefühl, es ist eine Kunst, hier die richtige Balance zu finden. Aber ich denke, bis jetzt ist uns das recht gut gelungen.

Es gibt auch Menschen, die Mühe mit den Grundkompetenzen haben, aber kein Interesse haben, das zu ändern. Was halten Sie davon?

Man muss natürlich auch akzeptieren, wenn jemand sagt, ich kann dieses und jenes nicht oder nicht gut, aber ich brauche es auch nicht. Wir wollen keinen Zwang zur Weiterbildung oder noch mehr Druck auf Menschen ausüben, die in der Regel schon genug sozialen Druck aushalten müssen. Wir sensibilisieren, wir machen ein Angebot und wollen, dass möglichst viele davon wissen und sich angesprochen fühlen. Es ist aber gerade bei Betroffenen ein schmaler Grat zwischen der gut gemeinten Maxime vom «lebenslangen Lernen» zum als Belastung empfundenen «lebenslänglich Lernen».

Unsere Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Betroffene wissen, dass es Angebote gibt, die sie unterstützen, wenn sie das möchten. Die Menschen müssen aber selber den Schritt machen, und wenn sie das nicht möchten, dann ist das ihre Entscheidung und völlig in Ordnung.

Das Gespräch führte Cynthia Ringgenberg.

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